Persönlich habe ich ihn ja nie kennen lernen können, meinen Onkel Herbert, aber er war irgendwie immer
da, wie ein Familienmitglied im Hintergrund. Es wurde von ihm erzählt und es gab persönliche Gegenstände
von ihm. Sein Bild hing neben dem Bett meiner Großmutter und das letzte Foto von ihm an der Ostfront
stand auf ihrer Kommode. Sie konnte ihren Sohn Herbert nie vergessen.
Meine Großmutter wohnte bei uns in der Familie, sie kochte, arbeitete im Haushalt mit und saß mit uns
täglich am Essenstisch. Für sie war ich der Ersatz für ihren gefallenen Sohn.
Sehr früh verlor meine Großmutter das erste ihrer drei Kinder und ihren Mann. Alleinerziehend musste sie
ganztags arbeiten um ihren beiden Kindern – meinen Onkel Herbert und meiner Mutter – eine passende
Schulbildung und Ausbildung zu ermöglichen.
Alle drei mussten sie in den schwierigen Zeiten fest zusammenhalten. Umso schlimmer war folglich die
Meldung von seinem Tod für die beiden Frauen, eine bleibende Traumatisierung. Meine Mutter hatte einmal
gemeint; hoffentlich wächst rasch Gras über die Sache.
Man wollte keine Wunden aufreisen. So wusste ich nur, er lag irgendwo in Russland, unerreichbar sein
Grab. Meine Großmutter war inzwischen längst gestorben. Dann kam die Grenzöffnung, und die politischen
Rahmenbedingungen hatten sich geändert. Ich lies mir von meiner Mutter aus den alten Unterlagen meiner
Großmutter die Orginal-Gefallenenmeldung des Kompanieführers heraussuchen. Sehr bewegend für mich
diese Zeilen zu lesen. Nun hatte ich die ersten Informationen. Es folgten Nachfragen beim Volksbund und
anderen Stellen, aber es hieß die Grablage sei wahrscheinlich nicht mehr auffindbar. Der eigene
Familienzuwachs, Hausbau und der Beruf waren Gründe warum die Nachforschungen immer wieder auf Eis
gelegt wurden.
Schließlich nach vielen Jahren fügten sich all die Informationen zu einem genaueren Bild zusammen. Die
Erstgrablage war inzwischen auf einem Friedhof umgebettet worden, das Internet mit Google Maps machte
vieles möglich und ich stieß dort auch auf die Seiten von Herrn Molter über den Kurland-Kessel mit sehr
vielen Informationen. Nun war klar. Da musste ich bald hin.
Mein Onkel Herbert lag nun auf dem Friedhof in Saldus unter den unbekannten Soldaten. Aus der
Erstgrablage waren die Toten umgebettet worden. Nur waren sehr viele der Erkennungsmarken wegen des
hohen Grundwasserstandes völlig korrodiert. Wir wollten eigentlich noch auf die Beschriftung der Namen
auf dem Friedhof warten, aber es zögerte sich immer wieder hinaus. 2013 entschieden wir uns nun zur Fahrt,
meine Mutter war schließlich schon 86 Jahre alt.
1. Tag - 28. August
Fahrt mit einem Wohnmobil von Nordbayern nach Frankfurt/Oder. Dort wurde auf einem Stellplatz übernachtet.
2. Tag - 29. August
Sehr früh ging die lange Fahrt durch ganz Polen bis in die Masuren. Dort übernachteten wir auf einem idyllischen Zeltplatz an einem See.
3. Tag - 30. August
Wir fuhren langsam durch diese herrliche Landschaft und ich wurde an meinen
Deutschunterricht im Gymnasium erinnert, wo wir Siegfried Lenz gelesen hatten.
Weiter ging es über endlose Fernstraßen durch das weitläufige Litauen mit seinen
großflächigen Agrarstrukturen bis wir abends in Lettland ankamen. Dort richteten wir
uns auf einem Zeltplatz in Jurmala ein, ein Vorort von Riga mit jeder Menge Villen
und Ferienhäuser reicher Leute. Der Zeltplatz war eine ehemalige Hotelanlage aus
den kommunistischen Zeiten, die geisterhaft leer stand. In der alten Parkanlage mit
Verbindung zum herrlichen Sandstrand hatte man einen einfachen Zeltplatz
eingerichtet.
4. Tag - 31. August
Früh spazierten wir zum Strand und genossen den Blick aufs Meer. Ich dachte an
meinen Onkel, der einmal in seinen Briefen schrieb, dass er am Rigaer Meerbusen
Wache schob und dass er wenn wieder Frieden ist wieder dorthin möchte.
Dann fuhren wir durch Jurmala und genossen die herrlichen alten Häuser, die noch
nicht einer Bauwut, wie sie bei uns in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts
grassierte, zum Opfer gefallen sind.
Schließlich erreichten wir unser gebuchtes Quartier das ABC-Hotel im Westen der
Stadt. Es wurde einquartiert und schon bald ging es per Bus in die Innenstadt.
Riga ist wirklich eine Reise wert. Eine Stadt mit herrlicher Bausubstanz und laut
Reiseliteratur die Stadt des Jugendstils. Wir fuhren mit dem Aufzug auf den Turm der
St. Petrikirche um danach zu Fuß die wichtigsten Stationen und per Elektrobähnchen
die Innenstadt kennen zu lernen.
Blick von der St Petrikirche auf den Bahnhof und Zentralmarkt
Jugendstil in Riga
5. Tag - 01. September
Nochmals war Riga das Ausflugsziel: Rathausplatz, Schwarzhäupterhaus,
Freiheitsdenkmal, Pulverturm, Jugendstilmuseum, Zentralmarkt, usw. Riga ist
wirklich eine tolle Stadt. Dazwischen gab's ein köstliches Menü in einem der LIDO
Speiselokale.
Das Jugendstilmuseum in Riga ein Muss!
Am Nachmittag ging es weiter zuerst zum Soldatenfriedhof Berberbeki am Stadtrand
von Riga und dann Richtung Saldus mit kurzem Zwischenstopp bei der Bäckerei
La^ci, auch wieder ein wertvoller Tipp von Herrn Molter.
Kurz vor Saldus verbrachten wir unsere nächste Nacht an einem herrlichen Zeltplatz
mit Pension an einem ruhigen See in wunderschöner Landschaft.
6. Tag - 01. September
Nun war es endlich so weit und der heutige Tag galt der Suche nach den letzten
Aufenthaltsorten meines Onkels.
Sehr früh besuchten wir den Soldatenfriedhof bei Saldus. Die Anlage ist
beeindruckend und mit einer tollen Ausstellung zu den einzelnen Schlachten. Wir
stellten im Pavillon ein Bild auf.
rechts das Bild meines Onkels Herbert Höhn (09.11.1923 - 28.01.1945)
Infotafel am Friedhof in Saldus
Auf dem Friedhof in Saldus
Tief gerührt standen wir vier schließlich alleine am Gräberblock, in dem Herbert
seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Ich las zuerst das Zitat von Goch Fock vor, das
auf dem Foto stand, welches am Bett meiner Großmutter hing:
"Die Toten sind nicht tot, sie gehen mit, unsichtbar sind sie nur unhörbar ist ihr
Schritt."
Anschließend las ich aus einem seiner letzten Feldpostbriefe vor: "... Wisst ihr wie
lange ich noch mit Urlaub warten muss? Ich stehe an 60. Stelle. Jeden Monat fahren
drei Mann. … Sonst schlage ich überhaupt hier noch meinen Wohnsitz auf. "
Er sollte Recht behalten und für immer dort bleiben.
von rechts: Neffe, Schwester und Großnichte mit einem Gesteck vor den Gräbern aus der Erstlage in Gavieze
Anschließend ging's nach Gavieze um die ursprüngliche Grablage mit Hilfe von Navi
und Fragen an Einheimische zu suchen. Äußerst hilfsbereit fuhren junge Leute mit
ihrem Pkw kilometerweit vor uns her. Wir fanden den Zivilfriedhof Rugu Kapi nahe
der ehemaligen Bahnstation südlich von Gavieze mitten im Wald versteckt. Gleich
neben dem Friedhof hatte die Wehrmacht einen Soldatenfriedhof angelegt aus dem
428 Tote vom Volksbund im Jahr 2000 umgebettet wurden. Auf Grund des hohen
Grundwasserspiegels und des darüber entstandenen Waldes mit Kiefern und Birken
waren sehr viele Erkennungsmarken korrodiert und nicht mehr auffindbar. Zumindest
konnten die Toten ohne Plünderung bis zu den Ausbettungsarbeiten des Volksbundes
ruhen, ein beruhigendes Gefühl.
Wieder standen wir sehr gerührt vor dem Gelände und stellten uns die Situation im
Januar 1945 vor. Dann holte ich seinen letzten Feldpostbrief vom 22.01.1945 hervor
und las:
"Liebe Mutter, holdes Schwesterlein!
Heute soll auch noch ein Briefchen mit. Viel zu schreiben gibt es ja nicht. Heut ist
auch wieder Rabatz. Aber Gott sei Dank flog der meiste Segen links von uns hin. Ja
augenblicklich sieht ja die Lage beschissen aus. Bei uns nicht aber bei
Thor…(Anmerkung: kaum lesbar). Da werden wir hier bald verschwinden, das
vermute ich.
Ja für heute viele liebe Grüße
Euer Herbert
Den Rest des Tages suchten wir noch den größten russischen Soldatenfriedhof in der
Nähe von Priekule auf und fuhren – soweit es mit einem Wohnmobil möglich ist – in
die Gegend der Kampfeshandlungen im Januar 1945.
Spät abends erreichten wir unser Quartier südlich von Liepaja und wir genossen noch
einen herrlichen Sonnenuntergang am Strand.
7./8. Tag - 01./02. September
Eine kleine Stadtrundfahrt mit Besichtigung der orthodoxen Kirche im Norden der
Stadt stand vor der Heimreise über Litauen und Polen nach Deutschland auf dem
Programm.
auf der Heimreise: der Berg der Kreuze in Litauen
9. Tag - 01. September
Nach Zwischenübernachtungen kamen wir wieder in Deutschland an.
Es war eine sehr beeindruckende Reise mit insgesamt 3760 km und wir wollen wiederkommen in ein Land
mit sehr netten Menschen, die den Blick nach Westen gerichtet haben.
Zum Schluss möchte ich mich recht herzlich bei Herrn Michael Molter bedanken. Ohne seine Informationen,
Unterlagen und Ratschläge wäre diese Reise so nicht möglich gewesen.
© Klaus Bock
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