Bericht von Familie Krusche über ihre Lettlandreise
13.08. - 19.08.2013




In meiner Erinnerung stehe ich als kleines Kind in der Küche meiner Großeltern. An der Wand hängt das Bild eines jungen ernsthaften Mannes in Fliegeruniform. Das ist - war mein Onkel Christian, er ist im Kurland vermisst. Was ist das „vermisst“? Ich bekam keine für mich damals verständliche Antwort. Ich denke immer noch an den Küchenstuhl, auf dem nie jemand von uns Platz nahm und an das dunkle Bett mit den Kugeln seitlich an jedem Ende, in dem niemals jemand mehr darin schlief.
Vermisst! Meine Großeltern haben wahrscheinlich bis zu ihrem Tod auf eine Antwort gewartet ebenso wie mein anderer Onkel Johannes und mein Vater Eberhard.

Seit 2004 versuchte ich neue Informationen über meinen Onkel Christian beim Volksbund in Erfahrung zu bringen. Eine Anfrage zuvor beim Roten Kreuz war genau wie die Anfrage meines Onkels Johannes nach der Wende ergebnislos. Doch diesmal hatte ich Glück, denn Herr Michael Molter las meine Volksbund-Anfrage und antworte mir. Vielen herzlichen Dank Michael!

Nachdem ich neue Informationen sowie Hinweise durch Herrn Molter erhalten habe, plante ich gemeinsam mit meiner Tochter, eine Reise nach Lettland zu machen, um die Stelle zu finden, an der mein Onkel Christian zuletzt am 20.02.1945 gesehen wurde. Bis es soweit war, vergingen jedoch einige Jahre. In diesem Jahr passte es dann aber! Wir reisten nach Kurland in Lettland!

Wir unternehmen diese Reise für meinen Onkel Christian, für meine Großeltern, für meinen verstorbenen Onkel Johannes, für meinen Vater und auch für uns.

Unsere Reise nach Kurland in Lettland

1. Tag - 13. August
Es geht los! Um 3.22 Uhr fahren wir mit dem Auto zum Dresdener Hauptbahnhof zum BerlinLinienBus und mit diesem nach Berlin Tegel. Um 10.40 Uhr (bzw. dann 10.55 Uhr) startet unsere Maschine Dash 8Q-400 der AirBaltic Richtung Riga.

Wir landen in Riga bei strömendem Regen und - der Autoverleiher von „Car del mar“ ist nicht da! Kathrin telefoniert mit dem Mann von der Autoverleihung und nach einigem Hin und Her finden wir einander. Der vorher gemietete VW Polo entpuppt sich als Renault Megane mit vielen Extras (vorab - er hat uns tapfer durch die Woche gefahren). Der Verleiher fährt mit uns ins Büro zwecks Vertrag und Unterschriften und wir vereinbaren, dass wir das Auto wieder vor dem Büro zurückgeben.

Nachdem die Formalitäten mit dem Autoverleiher geklärt sind, fahren wir in Richtung Saldus, tanken an der nächsten Tankstelle (Benzin 1,37€ pro Liter) und halten auf Empfehlung von Michael Molter am „Laci“, trinken einen superguten Kaffee, kaufen original lettisches Brot und setzen anschließend wieder unsere Fahrt nach Saldus fort.

Endlich am Ziel. Das Hotel in Saldus ist sehr ordentlich und teilweise neu renoviert (unser Zimmer riecht noch nach Farbe). Wir werden sehr freundlich aufgenommen, aber eigentlich brauchen wir nur noch ein Bett.

2. Tag - 14. August
Nach einem guten Frühstück und der der Entgegennahme des Lunchpaketes geht es in Richtung Saldus Soldatenfriedhof. Es ist ungemütlich, kalt und regnerisch. Der Friedhof, ca. 8 km hinter Saldus, ist ein riesiges Areal. Hier ruhen zurzeit schon ca. 29.000 umgebettete Soldaten aus dem 2. Weltkrieg, es ist allerdings noch eine riesige Freifläche für weitere Umbettungen vorgesehen. Leider ist der Pavillon mit den Namensbüchern, auch der der Vermissten, geschlossen. Wir beschließen daher weiter in Richtung Priekule über Ezere zu fahren. Nach ca. 10 km ist die Straße zwar breit, sie besteht aber nur noch aus festgefahrenem Sand und bei dem wieder einsetzendem Regen gibt es große Rinnsale und Pfützen. Es kommen uns maximal 2 Autos entgegen und zu allem gibt es noch ein Gewitter – alles ein bisschen unheimlich. An der Bushaltestelle Audari gehen 2 kleine Straßen in Richtung Malini, unserem eigentlichen Ziel, aber diese sind so aufgeweicht, dass wir befürchten, stecken zu bleiben. Wir fahren deshalb weiter bis zur Kreuzung Kniveri und dort nach links Richtung Priekule. Es regnet stark und auf der Straße ist kein Mensch, den man befragen könnte. Zu dem Regen kommt jetzt noch hinzu: Die Beifahrertür geht nicht mehr zu – d.h. der Griff klemmt! Irgendwie schaffen wir es dann doch noch, sie zu schließen. Es wird ausgemacht: Diese Tür wird ab sofort nur noch von innen geöffnet und von außen zugeschlagen. Wir fahren nun in Richtung Krote, vielleicht könnte man ja dann rechts nach Malini abbiegen, aber leider ist die Straße genauso aufgeweicht.

Also beschließen wir nach Liepaja (Liebau) zum alten Hafen zu fahren, der Hafen ist auch immer schön ausgeschildert. Doch plötzlich stehen wir vor einem Tor und uns kommt ein Mann mit Pistole entgegen – er ist aber ganz freundlich – und kann sogar etwas deutsch – er beschreibt uns den Weg zum alten Kriegshafen. Ich fotografiere so gut es bei dem Regen geht. Am beeindruckendsten ist aber eine alte Holzbrücke, über die wir soeben gefahren sind und die ich nun versuche, zu Fuß zu betreten, was ich bei dem Geschauckel aber schleunigst wieder unterlasse. Nachdem ich nun einige Bilder vom Hafen gemacht habe, begeben wir uns nun wieder auf den Weg nach Saldus. Die A9 ist eine sehr gute Straße, allerdings werden wir aufgrund eines Unfalls in Richtung Aizpute umgeleitet und zu unserer großen Freude wieder über eine Sandpiste.

Abend telefoniere ich mit Indra, einer Bekannten von Michael Molter, wegen der Öffnungszeiten des Pavillons auf dem Soldatenfriedhof und erfrage auch die Öffnungszeiten des Kurlandmuseums in Zante. Indra verspricht, sich am nächsten Tag beim Soldatenfriedhof zu erkundigen. Das Museum in Zante hat laut Indra um diese Jahreszeit täglich geöffnet.

3. Tag - 15. August
Blauer Himmel, Sonnenschein - nach einem wieder sehr guten Frühstück und mit Blumen geht es über Skrunda – Embute Richtung Malini (notfalls wollen wir dann das letzte Stück zu Fuß gehen). Hinter Embute: Regen!!! Die erste Abfahrt ist falsch – ein Gehöft – keine Menschen – nur bellende Hunde (lt. Karte heißt der Ort Zeidaki und den gab es vor 1945 noch nicht). Die 2. Abfahrt sieht wieder unsicher aus, aber wir biegen trotzdem ab und fahren nach ca. 3 km einen kleinen Hügel hinauf – und stehen vor einem Haferfeld – davor auf der rechten Seite ist es: der Rest von Malini - der alte Brunnen! Wir halten an und steigen aus, die eine Straße geht durch das Haferfeld, die Kreuzung selbst ist etwas versetzt. Ich laufe den Weg ein Stück entlang, bis ich gegenüber dem Wasserloch stehe, es regnet – aber ich muss dahin! Ich hole aus dem Auto die Blumen und die mitgebrachte Heimaterde – und gehe zu dem Wasserloch. Es ist der einzige Anhaltspunkt von Malini. In der Nähe dieses Ortes bzw. dieses Gehöftes wurde mein Onkel am 1. Tag der 5. Kurlandschlacht zum letzten Mal gesehen. Ich lege die Blumen und die Dose mit Erde auf den Brunnen und fotografiere. Dann verstreue ich die Erde ringsum und nehme von diesem Land Erde in der Dose mit.


Malini, der alte Brunnen

Ich bleibe noch eine ganze Weile dort stehen, sehe die Wälder ringsum und versuche mir zum wohl –zigsten Mal die Geschehnisse von damals vorzustellen....... Es ist ja der eigentliche Anlass unserer Reise, Blumen an der Stelle zu hinterlegen, wo es irgendeine Verbindung zu meinem Onkel gibt. Kathrin wartet auf dem Weg oben. Sie hat vorher schon Bilder ringsum gemacht. Während ich mich wieder auf dem Weg befinde, bemerke ich, dass meine Hose bis an die Knie klatschnass ist, meine Schuhe quietschen und sind völlig durchweicht. Aber wir sind da gewesen!

Wir fahren den 2. Weg auf die Hauptstraße zurück und da es der Tag noch möglich macht, fahren wir über Kniveri – Grobina nach Zante ins Kurlandmuseum. Der Eigentümer des Museums führt uns durch das Museum und erklärt uns in einem Sprachmix aus Englisch und etwas Deutsch die Ausstellung. Alle ausgestellten Waffen und Kriegsgeräte sind im Kurland nach dem 2. Weltkrieg gefunden worden. Ich zeige dem Besitzer auf einer alten Karte den Ort, wo mein Onkel vermisst wurde. Er meint: Alles kaputt! In der Gegend von Zante tobte die 6. und letzte Kurlandschlacht. Die Ausstellung ist umfangreich und hochinteressant! Daher bleiben wir sehr lange dort, denn auch im Garten sind noch ein Panzer T34, ein Flugzeug AN2 und vieles andere zu bestaunen. Ärgerlicherweise steigt gerade jetzt mein Fotoapparat aus (extra neu gekauft). Die Führung durch den Besitzer ist sowohl informativ als auch unterhaltsam. Alles in allem ist das Museum sehr empfehlenswert.

Es ist später Nachmittag und wir machen uns wieder auf den Weg nach Saldus. Dort kaufen wir im Rimi Supermarkt etwas zum Abendessen, für einen Gaststättenbesuch sind wir einfach zu müde.

4. Tag - 16.August
Die Sonne scheint! Heute stehen Lestene, Dzukste und der Strand von Jurmala im Programm. Jurmala ist der Ort, wo Lettlands Schöne und Reiche wohnen. Dort angekommen, finden wir einen schönen großen Parkplatz und suchen – wie sich das gehört - die Parkuhr – vergebens, Parkplatz am besten Strand kostenlos, unvorstellbar aber wahr! Die Ostsee ist sehr kalt, so dass wir es beim Füßewaschen und Strandspaziergang belassen. Jurmala hat den besten Strand von Lettland und es gibt zahlreiche schöne Villen, zum Teil auch aus Holz, zu bewundern. Mein Fotoapparat zeigt auf einmal „Akku leer“, also nix mit Lestene usw. Wir fahren daher zurück nach Saldus ins Hotel, um den Akku zu laden, allerdings nicht bevor wir wenigstens im „Laci“ noch einen Kaffee-Stopp einlegen und wieder etwas leckeres Brot kaufen.

In Saldus hänge ich den Akku für ca. 0,5 Stunden ans Netz und dann geht es los zum Soldatenfriedhof. Der Pavillon hat diesmal geöffnet. Wir tragen uns in das Besucherbuch ein und fotografieren aus dem Namensbuch unter „Z“ den Namen meines Onkels mit Geburts- und Vermisstendatum ab. Im Pavillon hängen Schilderungen über alle 6 Kurlandschlachten aus, es gibt sehr viele Schleifen an den Wänden von Angehörigen und Traditionsverbänden. Außerdem wird mit Aufstellern auf die Arbeit des Volksbundes in anderen Ländern Europas aufmerksam gemacht.


Soldatenfriedhof Saldus – Pavillion – die Namensbücher


5. Tag - 17. August
Nach dem Frühstück, dem Bezahlen der Rechnung und dem Koffer einpacken geht es mit geladenem Fotoakku nach Lestene. In Lestene ist der Friedhof der lettischen Legionäre (19. lett. SS Freiw. Grenadier-Division). Der Friedhof ist neben der Kirche in Lestene, die Kirche war im Krieg zerstört worden, ist jetzt etwas repariert, dennoch sind die Einschüsse teilweise sichtbar, aber es können wieder Gottesdienste in ihr abgehalten werden. Der Friedhof für die lettischen Legionäre wird von der Bevölkerung liebevoll gepflegt. Am Rand dieses Friedhofs befindet sich ein einzelnes Grab, eines erst vor kurzem verstorbenen Legionärs.


Kirche in Lestene – davor der Friedhof für die lettischen Legionäre mit Namenstafeln

Unser weiterer Weg führt uns geradewegs nach Dzuktse. Hier ruhen gefallene Soldaten mit auf dem Friedhof der Einheimischen. Daneben ist ein Park mit Denkmälern und Gedenksteinen. Die Kirche wurde im Krieg völlig zerstört und steht nur noch als Ruine da. Ein Stück davor auf der anderen Straßenseite ist ein ziemlich verlodderter Friedhof für gefallene russische Soldaten. Dies sagt schon einiges aus über das Verhältnis von Letten und Russen.

Weiter geht es nach Riga. Wir finden unser Hotel sofort und fahren - nachdem wir unser Zimmer bezogen haben - mit dem Bus ins Zentrum. Ich möchte beim Busfahrer zwei Tickets kaufen, doch dieser will kein Geld annehmen – irgendwie komisch. Wir denken nun, dass wir an der Endhaltstelle abkassiert werden, doch nichts passiert!

Nachdem wir zunächst nur eine verschlossene Touristeninformation gefunden haben, versuchen wir unser Glück im Hotel „Opera“ (Sterne?) Die Rezeptionistin ist uns sehr behilflich. Sie zeigt uns auf einem Stadtplan, wo sich die zentrale Touristeninformation befindet und erklärt uns den Weg, wie wir zu dieser kommen. Dort erfahren wir, dass an diesem Wochenende City Festival ist und daher sind alle Verkehrsmittel kostenfrei!!! Wir schauen uns noch einiges in der Altstadt von Riga an, essen Crepes im Double Coffee und nehmen anschließend den nächsten Bus nach Hause.

Doch schon heute merken wir: Riga selbst hält jeden Vergleich mit den europäischen Hauptstädten stand.

6. Tag - 18. August
Nachdem Frühstück geht’s auf in die Altstadt von Riga – natürlich mit dem Bus! Auf dem Weg in die Stadt fahren wir an einem gewaltigen monströsen sowjetischen Kriegsdenkmal vorbei. Interessanterweise - aber dennoch nicht verwunderlich - wird es nicht weiter als Sehenswürdigkeit geführt. Überall in Riga sind Marktstände, auch historische. An so gut wie jeder Ecke treten Sänger und Musiker auf. Sämtliche Musikrichtungen sind vertreten von Oper, Musical über Jazz zu Pop, Hip Hop. Es ist für jeden etwas dabei.

Nach einem Altstadtbummel – vorbei an allen wichtigen Sehenswürdigkeiten - und vielen Fotoversuchen, welche bei den vielen Menschen, ganz Riga ist unterwegs, nicht einfach sind, setzen wir uns in einer Gaststätte im Garten hin. Plötzlich geht über der Düna (Daugava) ein furchtbarer Lärm los – es findet eine Flugshow statt! Kostenlos und sehr beeindruckend.

Wir besuchen nun das Okkupationsmuseum – und bleiben sehr lange darin. Die Geschichte Lettlands ist teilweise sehr bedrückend, wir fangen an, die Letten zu verstehen und finden gleichzeitig auch Parallelen zu unserer Geschichte in Ostdeutschland.

Nach einem schönen Abendessen fahren wir wieder mit dem Bus zurück zum Hotel. Vorsorglich – und aus Mangel an Stift und Papier - hatte Kathrin den Busfahrplan mit ihrem Handy fotografiert, so dass wir schnell wieder zum Hotel gelangen.

Im Hotel stelle ich jetzt schon fest: Ich hätte noch einen oder gar zwei Tage in Lettland gebraucht. Ich würde gern noch einmal nach Malini fahren oder nach Priekule und vielleicht wären dann Menschen unterwegs, die ich zu Malini befragen könnte oder die mir den Weg zur Stadt- oder Gemeindeverwaltung zeigen könnten ....

7. Tag - 19. August
Es geht nach Hause. Der Sitz der Autovermietung ist ca. 1,5 km vom Hotel entfernt. Wir sind pünktlich da. Der Renault ist dank der schönen Sandpisten sehr schmutzig. Wir werden von einem Mitarbeiter des Autoverleihers zum Flughafen gebracht, das war‘s. Wir sind in dieser Woche ca. 1000 km gefahren. Kathrin checkt uns am Automaten für den Rückflug ein. Wir geben am Schalter unser Gepäck auf und unsere letzten Lats im Lido für Kaffee aus. In Berlin Tegel landen wir pünktlich und können dadurch sogar einen früheren Bus nach Dresden erreichen.

Auf dem Heimweg schreibe eine SMS an Indra und sage ihr vielen Dank für ihre Bemühungen, es hat alles wunderbar geklappt.

Bleibt zu Hause noch die lettische Erde auf das Grab meines Onkels Johannes zu bringen. Für meinen Vater haben wir viele Fotos von Malini und dem Soldatenfriedhof in Saldus mitgebracht. Er hat sich sehr gefreut und sich bei uns bedankt, dass wir diese Reise gemacht haben.

Wir haben jetzt einen Eintrag im Namensbuch und einen Ort, an dem wir Blumen niederlegen und gedenken können, vielleicht bringt es für alle noch Lebenden ein klein wenig Seelenfrieden.

© Marianne Krusche, Kathrin Krusche


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