Um die Frontlinie zu straffen, wurden letzte Stellungen begradigt. Gegen Ende April standen oft nur noch zwei Soldaten in einem 100 Meter breiten Abschnitt. Zu einer 7. Kurland-Schlacht sollte es allerdings nicht mehr kommen. Es hielt sich hartnäckig die Hoffnung, dass die Heeresgruppe doch noch aus Kurland herauskommen könnte. Einiges sprach dafür: Stellungen wurden zurück genommen, Lager wurden eingerichtet, in denen nicht unbedingt benötigtes Material gelagert wurde, schwer Bewegliches wurde zur Sprengung vorbereitet. Bataillone, Panzerjäger- und Artillerie-Abteilungen wurden aufgelöst. Die Kampfkraft der Regimenter war derart gering, dass nochmals Trosse und Stäbe nach Soldaten durchforstet wurden. Nur die Soldaten, die wirklich nicht mehr felddienstfähig waren, konnten bei den rückwärtigen Einheiten verbleiben.
Die 14. Panzer-Division erhielt den Befehl sich für den Abmarsch in die Heimat bereit zu halten. Der gleiche Befehl ging auch an die 11. und 126. Infanterie-Division. In voller Ordnung setzten sich die drei genannten Divisionen befehlsgemäß in Richtung Küste ab. Um als bewegliche Reserve der Heeresgruppe jederzeit und überall einsatzbereit zu sein, wurde die 12. Panzer-Division aus der Frontlinie abgezogen.
Der letzte Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Großadmiral Dönitz, forderte am 3. Mai per Funkspruch die Heeresgruppe Kurland auf, sich der veränderten Lage im Reich anzupassen. Dies hatte zur Folge, dass zahlreiche Truppenteile aus Kurland - wie auch aus den ost- und westpreußischen Räumen - schnellstmöglich zum Abtransport bereitgestellt werden mussten. Die Verladung der abzuziehenden Truppen war nur mit leichten Infanteriewaffen vorgesehen. Das übrige Material sollte zurückgelassen und vernichtet werden. Die Heeresgruppe erhielt die Operationsfreiheit, die Hauptkampflinie in vorgeschobene Brückenköpfe um die Hafenstädte Liepaja (Libau) und Ventspils (Windau) zurückzuführen. Der Befehl zur Rücknahme der Heeresgruppe Kurland konnte allerdings von Generaloberst Hilpert nicht mehr erteilt werden, da es schlicht und ergreifend am nötigen Transportraum zur Durchführung dieses Unternehmens mangelte. Es ergingen lediglich die Anordnungen, dass sich die 18. Armee auf die Vartaja-Stellung und die 16. Armee sich über Tukums in Richtung Norden zurückziehen sollten. Die Grenadier-Regimenter 189 und 174 (81. Inf.-Div.) waren die letzten Einheiten, die auf diesem Wege durch Tukums zogen.
Nachrichten, dass die Wehrmacht mit der britischen Armee in Westdeutschland einen Waffenstillstand geschlossen hätte, erreichten natürlich auch die Soldaten in Kurland. Trotzdem erging unter anderem der Befehl: "… Der Krieg im Osten geht weiter! Offiziere und Mannschaften müssen ihre Zuversicht bewahren!" Nur kleine Schiffe der 9. Marine-Sicherungs-Division verluden bereits zu dieser Zeit Mensch und Material. Total überfüllt fuhren sie nach Westen. In der Nacht auf den 7. Mai stießen die letzten einsatzfähigen Boote der 5. Schnellboot-Flottille auf sowjetische Schnellboote.
Ein weiterer Funkspruch des Großadmirals Dönitz traf am Morgen des 8. Mai ein. Dieser besagte, dass infolge der Kapitulation sämtliche Sicherungs- und Seestreitkräfte, sowie alle Handelsschiffe Hela und Kurland bis zum 9. Mai 0.00 Uhr zu verlassen hätten. Nur wenige Stunden später kam der nächste Funkspruch mit der Mitteilung, dass das Oberkommando der Wehrmacht die Gesamtkapitulation unterschrieben hatte. Für die Heeresgruppe Kurland bedeutete dies, dass bis zum 9. Mai, 1.00 Uhr alle Anstrengungen unternommen werden mussten, um den Abtransport über See zu gewährleisten. Bis zu genau diesem Zeitpunkt mussten alle Schiffe ausgelaufen sein.
Über die Funkstellen des Heeresgruppenkommandos ließ Generaloberst Hilpert Kontakt zum Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Kurland aufnehmen, um diesem die Kapitulation anzubieten. Nachdem dessen Zustimmung eingetroffen war, wurden die verbliebenen Kurland-Divisionen darüber unterrichtet. Die vereinbarte Waffenruhe sollte am 8. Mai um 14.00 Uhr beginnen.
Der Oberbefehlshaber des Luftwaffenkommandos Kurland setzte sich kurz darauf mit seinen kommandierenden Offizieren in Verbindung und veranlasste die Überführung der fliegenden Teile ins Reich. Als Zielflughafen wurde Flensburg festgelegt. Aus Norwegen kommende Transportmaschinen sollten ab dem Morgengrauen das Bodenpersonal abholen. Zurückbleibendes Material war zu vernichten.
Die Dienststellen der Kriegmarine wurden sofort vom Seekommandant Lettland mit dem Hinweis alarmiert, dass mit dem Abtransport eines möglichst großen Teiles der Heeresgruppe nach Westen zu rechnen sei. Alle zur Verfügung stehenden Fahrzeuge sollten hierzu verwendet werden. Dieser Abmarsch musste bis zum 9. Mai 0.00 Uhr durchgeführt sein. Alle erforderlichen Anordnungen wurden in der Kürze der Zeit getroffen. Am späten Abend des 7. Mai fand eine Besprechung der Flottillenchefs statt, in der die genauen Beladungszahlen für die einzelnen Schiffe festgelegt wurden.
Gemäß ihren Befehlen blieben die Divisionen in ihren Stellungen, während im Hintergrund die Vorbereitungen für einen begrenzten Abtransport der Heeresgruppe liefen. Am Morgen des 8. Mai gliederten sich die Korps und Divisionen wie folgt:
Die 18. Armee am rechten Flügel:
Südlich von Liepaja: X. Armee-Korps (132. und 30. Inf.-Div., sowie Teile 126. Inf.-Div.)
Südwestlich Durbe: I. Armee-Korps (87. und 225. Inf.-Div.)
Südwestlich Skrunda bis zur Venta (Windau): II. Armee-Korps (563. und 263. Inf.-Div.)
Die 16. Armee am linken Flügel:
Beiderseits Saldus: XXXVIII. Armee-Korps (122.; 290. und 329. Inf.-Div.)
Nordostwärts Saldus: L. Armee-Korps (24. und 218. Inf.-Div.)
Südwestlich Tukums: VI. SS-Armee-Korps (205. Inf.-Div. Und 19. lett. SS-Gren.-Div.)
Nördlich Tukums bis zum Meer: XVI. Armee-Korps (81. Inf.-Div.; Div. z.b.V. 300; 21. Luftw.-Feld-Div.)
Als einzige Reserve stand der Heeresgruppe die 12. Panzer-Division nördlich von Saldus zur Verfügung. Die 11. und Teile der 126. Inf.-Div., sowie die 14. Panzer-Division befanden sich bereits auf dem Weg Richtung Liepaja.
Am Vormittag des 8. Mai herrschte im Hafen von Liepaja Hochbetrieb. Verpflegung wurde auf die Schiffe verladen und unnützes Material von Bord genommen. Die Evakuierungsvorbereitungen wurden durch sowjetische Luftangriffe gestört. Eigene Jagdflugzeuge waren nicht mehr vorhanden. Die Hafenanlagen erhielten dadurch noch manchen schweren Treffer.
Um 14.00 Uhr schwiegen an der Kurland-Front die Waffen! Gegen 20.30 Uhr ist das letzte Schiff aus dem Kriegshafen von Liepaja in Richtung Kiel ausgelaufen. Auch den Hafen von Ventspils (Windau) verließen in den späten Abendstunden des gleichen Tages die letzten Geleite.
Generaloberst Hilpert selbst übergab die Heeresgruppe an die sowjetische Führung - so wurde es von den Siegern verlangt. Er ging als erster Soldat nach der Kapitulation in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Ihm folgten etwas mehr als 200 000 Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften und lettische SS-Freiwillige.
Der letzte Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht vom 9. Mai 1945 hatte folgenden Wortlaut: "Als vorgeschobenes Bollwerk fesselten unsere Armeen in Kurland unter dem bewährten Generalobersten Hilpert monatelang überlegene Schützen- und Panzerverbände und erwarben sich in sechs großen Schlachten unvergänglichen Ruhm. Sie haben jede vorzeitige Übergabe abgelehnt. In voller Ordnung wurden mit den nach Westen noch ausfliegenden Flugzeugen nur Versehrte und Väter kinderreicher Familien abtransportiert. Die Stäbe und Offiziere verblieben bei ihren Truppen. Um Mitternacht wurden von der deutschen Seite, entsprechend den unterzeichneten Bedingungen, der Kampf und jede Bewegung eingestellt…"
Der letzte Abschnitt dieses Berichtes lautete: "Die Wehrmacht gedenkt in dieser schweren Stunde ihrer vor dem Feind gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland!"
Quelle: W. Haupt - Das war Kurland, Podzun-Pallas
Mit freundlicher Unterstützung des Autors Werner Haupt
© Michael Molter
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