Der Rückzug nach Kurland



Karl Brockmann - damals Pionier der 2. Kompanie, Pionier-Bataillon 126 (126. Inf.-Div.) - berichtet Folgendes über die Zeit des Rückzuges nach Kurland:

Der Rückzug durch das Baltikum dauerte für uns bis zum 9. Oktober. In der Nacht zum 10.10. wurde unsere Division im Zuge weiterer Absetzbewegungen und der Frontverkürzung aus der Front gelöst und in Richtung Riga in Marsch gesetzt. In den späten Nachmittagsstunden erreichten wir Riga, das wir in der folgenden Nacht in Richtung Dünabrücken durchquerten. Riga war eine tote Stadt, nichts regte sich. Es gab totale Verdunkelung, kein Mensch war zu sehen. Die z. T. engen Straßen der Stadt machten auf mich einen beängstigenden Eindruck. Viele Bewohner waren schon vor den russischen Truppen geflohen.

Gegen Mitternacht wurden wir in einem verlassenen dreigeschossigen Mietwohnhaus einquartiert. Hier durften wir einige Stunden in voller Uniform schlafen. Mit dem Kompanie- und dem Zugtrupp lag ich auf dem Flur. Einer musste immer Wache halten, denn wir hatten einen genauen Marschplan, der eingehalten werden musste. Nach drei bis vier Stunden Ruhe ging es weiter. Wir mussten zu einem festgesetzten Zeitpunkt die Dünabrücke erreichen. Die gesamten Divisionen wurden in dieser Nacht über die Brücke geschleust. Die LKWs und Fahrzeuge fuhren in Dreierreihen und die Fußtruppen marschierten in langen Kolonnen auf den Gehsteigen. Unser Marsch ging dann weiter Richtung Westen.

Es war geplant, dass wir in Nordkurland zum Küstenschutz eingesetzt werden sollten. In diesen Tagen aber ergab sich eine ganz neue Situation. Wir Soldaten konnten das natürlich nicht wissen und wurden auch nicht darüber unterrichtet. Uns wurde nur befohlen: Marschieren, marschieren, marschieren...

Was war in den vergangenen Tagen passiert?
Die russischen Truppen waren im Mittelabschnitt zu einer neuen Großoffensive angetreten. Sie hatten die deutschen Stellungen überrannt, waren 40-50 km südlich von Libau vorbei gestoßen und erreichten am 10. Oktober bei Memel die Küste der Ostsee. Damit war die Heeresgruppe Nord von der Heimat abgeschnitten, sie war eingeschlossen. 500 000 deutsche Soldaten saßen in der Falle.

Die größte Sorge der Heeresgruppenleitung war die Sicherung Libaus. Über diesen Hafen würde in Zukunft der gesamte Nachschub für die Nordarmee laufen. Die Südflanke der Heeresgruppe südlich von Libau war offen wie ein Scheunentor. Hier standen nur wenige Sicherungseinheiten, die einem russischen Angriff nicht gewachsen waren. Eine ausgebaute Stellung gab es nicht.
In Unkenntnis dieser Sachlage wurden wir angetrieben und mussten am 11. Oktober 1944 60 km quer durch Kurland marschieren. Wir waren alle übermüdet und am Ende unserer Kräfte. Wenn es einmal eine halbe Stunde Pause gab, lag die ganze Kompanie im Straßengraben und schlief. An diesem Tag gab es kein Pardon. Es war gut, dass wir in den Vormittagsstunden unsere Waffen und einige Fußkranke auf LKWs verladen konnten. Am nächsten Tag wurde auch unsere Kompanie auf LKWs verladen und in den Raum südlich von Libau gebracht.
In unserem neuen Einsatzraum gingen wir sofort in Bereitschaft und wurden zum Stellungsbau eingesetzt. Der Wettergott meinte es gut mit uns. Die Witterung war trocken und mild. Dies war für uns sehr angenehm, denn es gab noch keine Wohnbunker, diese mussten erst noch gebaut werden.

Nur wenige Tage später begannen die russischen Großoffensiven gegen die Kurlandarmeen. Sie hatten fast alle das Ziel, den Hafen Libau zu erobern und damit die Heeresgruppe von ihrem Versorgungshafen abzuschneiden. Dieses Ziel hat der Russe nie erreicht. Sechs weitere Kurlandschlachten sollten noch folgen. Die Heeresgruppe Kurland war die einzige Armee der deutschen Wehrmacht, die nie vom Feind bezwungen wurde.

Die Schlachten in Kurland wurden mit unbeschreibbarer Härte geführt. Die deutschen Soldaten wussten, dass hinter ihnen die Ostsee lag und es kein Zurück gab. Von russischer Seite wurden die Schlachten als Materialschlachten geführt. Der Russe hatte ja genügend Panzer und Munition. Die Lieferungen der Alliierten erreichten in diesen Monaten Rekordmengen.
Die deutschen Grenadiere und Pioniere bauten ihre Stellungen zu Festungen aus. In diesen Tagen lautete die Parole:

"Gräben statt Gräber!"

Auf der deutschen Seite waren nur noch drei Panzer-Divisionen vorhanden, die 4., die 12. und die 14. Panzer-Division. Diese wurden als Feuerwehren eingesetzt und waren so stationiert, dass sie über Nacht jede Stellung der 240 km langen Kurlandfront erreichen konnten.

Der Generalstab der Heeresgruppe beabsichtigte, dass die Nordarmee unverzüglich in Richtung Ostpreußen ausbrechen sollte. Die drei Panzer-Divisionen, die 11. ostpreußische Infanterie-Division und unsere 126. Infanterie-Division waren als Stoßdivisionen vorgesehen. Der Oberbefehlshaber Schörner flog extra ins Führerhauptquartier, um die Lage zu besprechen. Hitler, der Gefreite aus dem I. Weltkrieg, lehnte wieder ab und befahl:

"Die Kurlandarmee bleibt dort wo sie ist, ich brauche Kurland als Sprungbrett, um den russischen Armeen in den Rücken zu fallen."

Damit war das Schicksal der Heeresgruppe entschieden.
Die Verluste der Russen waren in den sechs Kurland-Schlachten ungewöhnlich hoch. Die Russen hatten über 90 000 Gefallene und über 300 000 Verwundete zu beklagen. 2 651 Panzer und 722 Flugzeuge der "Roten Armee" wurden von den Deutschen abgeschossen.

Im Frontabschnitt südlich von Libau, den wir am 12. und 13. Oktober erreicht hatten, blieb es ruhiger als erwartet. So waren die nächsten sechs Wochen für uns relativ angenehm. Wir wurden vorwiegend zum Stellungsbau eingesetzt. Die erste und zweite Kurland-Schlacht fanden weiter östlich statt. In diesen Wochen erhielten wir häufig Ersatz. Aber es kamen kaum noch ausgebildete Pioniere zu uns. Es waren Soldaten aus Einheiten, die nicht mehr benötigt wurden, von Transportkolonnen, von Luftwaffeneinheiten und sogar einige von der Organisation Todt. Diese Soldaten konnten wohl gut mit Hacke und Schaufel umgehen, für pioniertechnische Aufgaben waren sie aber nicht zu gebrauchen. Die Folge war: Die wenigen noch vorhandenen Pioniere wurden immer häufiger zu Mineneinsätzen und ähnlichen Aufgaben befohlen. Diese hatten die meisten Ausfälle und schrumpften daher weiter zusammen.

In diesen Tagen hatte ich ein beeindruckendes Kriegserlebnis:
Wir beobachteten am Himmel über uns einen Luftkampf zwischen einem deutschen und einem russischen Jagdflieger. Nach einigen Kurven und Anflügen wurde der russische von dem deutschen abgeschossen. Das Flugzeug stürzte brennend in unserer Nähe zu Boden.
Der russische Pilot war aber rechtzeitig ausgestiegen und segelte an seinem Fallschirm hängend am Himmel. Die Windströmung war für ihn günstig. Er wäre daher mit Sicherheit hinter der Frontlinie auf russischer Seite gelandet. Vermutlich aber hätte er dann einige Tage später ein anderes Flugzeug bestiegen, um erneut seine deutschen Feinde anzugreifen.
Dies hatte sicher auch der deutsche Pilot erkannt. Er umkreiste den Fallschirmpiloten einige Male und schoss dann mit seinen Bordkanonen in den Fallschirm des Russen. An den Explosionswolken haben wir dies deutlich gesehen. Der Fallschirm war sicherlich durchlöchert wie ein Schweizer Käse, mit der Folge, dass sich die Fallgeschwindigkeit des Piloten deutlich beschleunigte und er dadurch vor der deutschen Linie zu Boden kam. Er wurde gefangen genommen und zum nächsten Gefechtsstand geführt.

Der russische Pilot hat durch das faire Verhalten des deutschen Piloten überlebt.

Ähnliche, menschliche Situationen deutscher gegenüber wehrlosen russischen Soldaten habe ich auch häufiger erlebt.

© Karl Brockmann


Quelle: "Von Leningrad bis Kurland - Erlebnisse eines deutschen Pioniers im Nordabschnitt der Ostfront" von Karl Brockmann, An der Springbeke 7, D-33100 Paderborn

Kontakt:
Karl Brockmann
An der Springbeke 7
D-33100 Paderborn
E-Mail: karl.brockmann@t-online.de



1. Kurland-Schlacht
13. Oktober bis 24. Oktober 1944
2. Kurland-Schlacht
27. Oktober bis 15. Dezember 1944
3. Kurland-Schlacht
21. Dezember bis 31. Dezember 1944
4. Kurland-Schlacht
24. Januar bis 03. Februar 1945
5. Kurland-Schlacht
20. Februar bis 10. März 1945
6. Kurland-Schlacht
18. März bis 31. März 1945
Der Kampf um die Baltischen Inseln
14. September 1941 bis 25. November 1944
Die Kapitulation - das Ende in Kurland
Mitte April bis 9. Mai 1945


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