Willi Krück
Zug- und Kompanieführer im Kurland-Kessel



Vorangegangene militärische Stationen seit April 1942:
Panzerjäger-Rekrut und Reserveoffiziersbewerber (ROB) in Hamburg- Harburg,
Frontbewährung im Nordabschnitt der Ostfront zwischen
Ilmensee (Kessel von Demjansk) und Leningrad (St. Petersburg),
Kriegsschule (in Wischau bei Brünn) Oberfähnrichlehrgang in Berlin/Großglienicke,

Aus dem letzten Urlaub im Juli 1944 (in Erfde, Kreis Schleswig) wurde ich vorzeitig per Telegramm in die Panzerjäger-Ersatzabteilung in Landau/Pfalz zurückbeordert - als Folge des Attentats auf Hitler am 20. Juli.
Dem Antrag auf sofortige Versetzung zur Heeresgruppe Nord (zum "Alten Haufen") wurde umgehend und gern stattgegeben (s. die Wehrmachtsberichte vom Nordabschnitt und die allgemeine Kriegslage). - Der Zielort des Marschbefehls war Riga. Die feldmäßige Ausrüstung und Einkleidung liefen reibungslos und ebenso problemlos erreichte ich etwa Mitte August (1944) die Frontleitstelle Krottingen in Litauen. Hier zeigte sich das Desaster der Heeresgruppe Nord hautnah: Alle hier anwesenden Soldaten sollten ungeachtet der Wehrmachtsteile, der sie angehörten, auch die bisherige Waffengattung spielte keine Rolle, zu Alarmkompanien aufgestellt werden; der junge Offiziersnachschub sollte diese Kompanien übernehmen. Der Einwurf eines jungen Leutnants: "Herr Hauptmann, ich habe noch nie eine Kompanie geführt!" wurde zurückgewiesen mit dem kategorischen Satz: "Jeder junge Leutnant ist fähig, eine Kompanie zu führen!"
Am nächsten Morgen ging der Kelch dieser undankbaren Aufgabe an allen Beteiligten vorüber. Mit LKW, Flüchtlingsschiff von Memel bis Königsberg und Eisenbahn von dort nach Danzig erreichte der Offiziersnachwuchs schließlich den dortigen Flugplatz. Drei Ju 52 standen bereit. Nach der kurzen Instruktion, wie man mit dem Fallschirm auf dem Rücken umgeht, falls die Maschine, von den Bordwaffen der russischen Kampsflugzeuge getroffen oder gar abgeschossen werde, begann der erste Flug meines Lebens. Unsere Maschine "sackte immer wieder ab." Diese "Luftmanöver" machten alle 16 Insassen in kurzer Zeit luftkrank. Nach der Landung in Riga ("endlich!!") gab jeder dem Piloten 5 RM als Ausgleich für die verunreinigte Maschine, obgleich jeder zum Kochgeschirr oder gar Käppi gegriffen hatte, als das Kotzen schon bald nach dem Start einsetzte.

Erster Einsatz als Zugführer - vor Mitau (Jelgava)
Riga war bereits bedroht. Der sowjetische Vorstoß kam in diesen Tagen aus dem Raum Bauske (Bauska), und es wurde schon um Mitau etwa 20 km südwestlich von Lettlands Hauptstadt gekämpft.
Bereits in der Nacht nach der Landung befand ich mich als Zugführer in meiner alten Kompanie (2. Kompanie der s. Heeres-Panzerjäger-Abteilung 667) auf dem motorisierten Nachtmarsch in Richtung Mitau.
Unvergessen ist der dichte Nebel dieser Nacht! Einerseits war er die perfekte Tarnung eines Nachtmarsches mit Fahrzeugen, andererseits aber kamen wir nur im Schritttempo voran. Vor jedem abgedunkelten Scheinwerfer ging ein Mann mit sehr geringem Abstand als "Wegweiser". Die schweren Zugmaschinen (Halbkettenfahrzeuge) und Geschütze (8,8 cm PAK) durften nicht von der relativ festen Straße seitlich abrutschen. Ich glaube, als der neue Morgen graute und wir die nördliche Gegend von Mitau erreicht hatten, war der Kampflärm schon so gut wie verstummt. Wir brachten die drei Geschütze rechts und links der Straße so in Stellung, dass wir genügend Schussfeld hatten, um aus Richtung Mitau anrollende Panzer (den T 34) bekämpfen zu können. Die Infanterie hüben und drüben richtete sich auf die Defensive ein. Der Russe begnügte sich mit dem Erreichten. Unsere Geschützstellungen waren von der kleinen Stadt, die nun ganz oder zum größeren Teil in russischer Hand war, nicht einsehbar, weil dichte Baumgruppen guten Sichtschutz boten. Wir konnten uns also recht frei bewegen. Es wurden Schützenlöcher und Unterstände gegraben und gebaut. Für die Zugmaschinen mit der granat- oder bombensplitter-empfindlichen Wasserkühlung - ein Gewehrgeschosseinschlag reichte auch schon - mussten Vertiefungen oder Splitterschutzwälle gegraben werden.
Es folgten ein paar Wochen mit ruhigem Stellungskrieg. Ich hatte ziemlich schnell etwas abseits links der Straße einen kleinen See entdeckt. Das Wasser war zwar nicht oder nicht mehr sommerlich warm, aber das ruhige, klare, kühle Nass lud mich zum Baden. Weil ich der einzige Schwimmer in dem herbstkühlen Wasser war, blieb es wohl nicht aus, dass die Landser, die mich beobachten konnten, sich über den "verrückten Leutnant" in dem kalten, kleinen See lustig machten.

Sprit sparen zwischen den Schlachten
In den Tagen und Wochen zwischen den Kurlandschlachten durften keine mit Benzin getriebenen Fahrzeuge - auch Kräder - ohne Sondergenehmigung gefahren werden. Für Dieselfahrzeuge galt das Fahrverbot nicht. Weil ich meinen Leuten in der ruhigen Stellung nicht nur den nötigen Dienst abverlangen, sondern ihnen etwas Kultur für die freie Zeit bieten wollte, ließ ich mich mit dem 5t-Muni-Lkw (ein Beiwagenkrad hätte voll gereicht!) nach Riga fahren, um deutsche Bücher zu kaufen. Groß war die Auswahl wohl nicht. -So bekam ich den ersten und damals einzigen Eindruck von dieser schönen Stadt, die 1201 von Bischof Albert von Livland gegründet wurde.

Der 21. Geburtstag: volljährig!
Wann hier vor Mitau unser Stellungswechsel erfolgte, weiß ich nicht mehr, aber an meinem 21. Geburtstag, am 23. September, deshalb von Bedeutung, weil wir mit 21 volljährig wurden, war mal wieder der Befehl zum Stellungswechsel gekommen. Mein Abteilungskommandeur, Major von Do., hatte sich zum Gratulieren persönlich mit einer Flasche guten geistigen Getränks auf den Weg gemacht. Ich ließ die Geschützbedienungen "sammeln" und die Flasche in der Runde kreisen. Das hob die Stimmung. - Zu der genannten Bedeutung des 21. Geburtstages sei noch hinzugefügt, dass es bis zu diesem Geburtstag täglich eine zusätzliche Portion "Jugendverpflegung" gab. Wenn mein Melder (früher "Bursche") seinem Zugführer das Essen brachte, erhielt ich natürlich auch die Jugendverpflegung!

Kompanieführer
Zu Beginn der ersten Kurlandschlacht (13. bis 24. Okt. '44) war ich bereits zum Kompanieführer der 1. Kompanie ernannt worden. Der bisherige Chef, (Hauptmann …?), dieser alten ostpreußischen Kompanie (ehemals Panzerjägerabteilung der 11. [ostpreußischen] ID) war Abteilungskommandeur einer anderen Abteilung geworden. Man verehrte den "Alten" sehr, aber Soldaten, ostpreußische im Besonderen, respektierten auch den neuen jungen Chef - auch der alte Stamm der Kompanie einschließlich des Hauptfeldwebels ("Spieß"), der "Mutter der Kompanie", zeigte sich mir gegenüber angenehm loyal.
Während der sechs Kurlandschlachten waren nicht nur wir als - panzerbrechende - "Feuerwehr" unterwegs zu Brennpunkten. An nicht bedrängten Frontabschnitten wurden Einheiten heraus genommen und zu den Brennpunkten transportiert. Vor allem während der Monate unter dem Heeresgruppenkommando des Generalobersten Schörner wurde mit eisernem Besen jeder Mann in Kurland aufgespürt, der an seinem Platz bei den rückwärtigen Diensten nicht dringend notwendig war, und an die Front beordert. Die beträchtlichen Verluste seit Beginn der Absetzbewegungen aus dem Raum Leningrad mussten ersetzt werden. Der Nachschub aus Deutschland brach wohl fast bis zum Schluss nie ganz ab, wurde aber immer spärlicher. - Schörners harte Hand ist auch in diesem Spruch zu erkennen:
"Vor uns der Iwan, hinter uns der Schörner und dahinter die See!"
Es war bekannt, dass Schörner bei Versagen und Missständen die Verantwortlichen sofort vor Ort mit der Degradierung bestrafte. Der Betroffene musste den Stahlhelm aufsetzen, und dann erfolgte die Degradierung durch den Heeresgruppenchef.
Ich erlebte ihn einmal ganz anders, als Ich mich in meinem VW-"Kübelwagen" mit Fahrer Beiwinkel aus Mecklenburg auf einem einspurigen Knüppeldamm von der HKL wieder zurück zur Kompanie befand. Nur dieser Knüppeldamm machte die HKL in diesem Abschnitt auch für Fahrzeuge zugänglich. An einer Waldlichtung hatte die Feldgendarmerie bereits ein Fahrzeug gestoppt und seitlich abstellen lassen, der Wagen des Generalobersten sollte ungehindert weiterfahren können. Mein Einwurf: "Da bin ich doch längst weg!" fand keine Beachtung. Wir standen also zu mehreren neben dem Knüppeldamm und unterhielten uns, ein paar rauchten eine Zigarette, auch mein zuverlässiger Fahrer Beiwinkel, als bald zwei hohe Offiziere auf uns zutraten und der Ranghöchste, es war Schörner, fragte: "Was machen's hier!!?" (bayrische Mundart) Alles riss die Knobelbecherabsätze zusammen und legte den "Mittelfinger an die Hosennaht". Als einziger Offizier war ich dran mit der Meldung: "Wir sollen hier warten bis Herr Generaloberst vorbei sind!" "Wer befahl das?!" "Die Feldgendarmerie!" Dann fragte er: "Wer hat eben g'raucht?" Beiwinkel hatte seine Zigarette fallen lassen. Er meldete sich: "Ich, Herr Generaloberst!" Schörner: "Kommen' S her!" Der Adjutant musste seiner Aktentasche ein Zigarettenetui entnehmen und Schörner reichte es meinem Fahrer mit den Worten: "Sollen's net wegen mir Zig'retten wegwerfen!" Das silberne Etui trug den eingravierten Namen des Generalobersten Schörner.

Das große Messtischblatt
Wie sehr wir als Heeres-Panzerjäger zu den Eingreif-Einheiten zählten, hätten meine Messtischblätter (Maßstab 1:25000, 1 cm gleich 250 m) mit den eingezeichneten Einsatzzeichen (HKL, Stellungszeichen, Divisionsnummern u. a). dokumentieren können. Ich besaß von diesen militärischen Karten für den Einsatz vor Ort zum Schluss eine lange Karte (aneinander geklebte Einzelkarten) von dem Gebiet zwischen Libau (Liepaja) im Westen und Tukum (Tukums) im Osten. Hier waren wir mehr unterwegs als in Stellung, also von einem Stellungswechsel zum nächsten. An Hand dieser Karte hätte ich wohl auch noch einige Jahre nach Kriegsende sehr gut erzählen können, was wo genau passierte. Aber vor dem inneren, dem geistigen Auge, ist auch so noch viel Erlebtes präsent. Es ist hier jedoch nicht der Platz, die vielen Bilder meiner Kurland-Zeit ausführlicher zu beschreiben. Ich wähle des Weiteren nur die beiden Ereignisse, die in gewisser Weise eine Weichenstellung für mein Leben - nach "Kurland" - darstellten. Beide Male war der Bereich südlich von Frauenburg (Saldus) die Gegend des Geschehens.

Panzernahkampf
Am Beginn der 3. Kurlandschlacht (21. bis 31. Dezember 1944) war meine Panzerjäger-Abteilung, und somit auch die Kompanie bezüglich der Bewaffnung so stark dezimiert, dass die Kompanien eigentlich nur noch als erweiterte Züge anzusprechen waren. Die personellen Verluste waren bis dahin zum Glück vergleichsweise gering.
Der dritte Versuch der Sowjets, die Heersgruppe Kurland auszuschalten, um Kräfte frei zu bekommen für die Eroberung Ostpreußens und für den Marsch in Richtung Berlin, begann also wenige Tage vor Weihnachten 1944. Mein Einsatzbefehl lautete, die Kompanie mit nur noch vier Geschützen in dem genannten Gelände so in Stellung zu bringen, dass nicht nur Panzer, sondern auch die angreifende Infanterie bekämpft werden konnte. Das leicht hügelige Gelände mit Baumgruppen oder Wäldchen, und besonders nach links mit weiter Sicht und damit auch weitem Schussfeld, eignete sich für Angriff und Verteidigung gleichermaßen gut. Einige oder ein paar hundert Meter vor uns in den Grabenstellungen der HKL lag eine Waffen-SS-Brigade.
Das Getöse von MG-, Granatwerfer- und PAK-Feuer von drüben richtete sich zunächst auf unsere HKL. Wir blieben von der feindlichen Artillerie unbehelligt. Es war schnell die Rede davon, dass der "Iwan jeden einzelnen Mann aus der HKL herausschießt".
Bereits um die Mittagszeit musste ich die beiden am weitesten vorn links platzierten Geschütze abschreiben: Der Gegner war dort eingebrochen und dabei, unsere Geschützstellungen zu umgehen. Das war die Situation, in der Kompanie- und Geschützführer vor schweren Entscheidungen standen: Ein Stellungswechsel nach rückwärts war nur mit viel Glück zu bewerkstelligen: die schweren Spreizlafettengeschütze waren im Gelände im Mannschaftszug nicht zu bewegen. Die wassergekühlten Halbkettenzugmaschinen fielen aus, wenn der Kühler ein Leck bekam. Diese schwere PAK sollte bei der Planung noch wirkungsvoller, mit noch höherer "V0" (sprich:"vau null" = Anfangsgeschwindigkeit der Granaten) die 8,8 FLAK übertreffen, war aber nicht annähernd so beweglich, wie die mit weniger Durchschlagskraft bestückten Panzerabwehrkanonen auf den sog. Selbstfahrlafetten.
So ging bei den Geschützführern das Wort um: "Du stehst immer mit einem Bein vor dem Kriegsgericht. Fällt das Geschütz noch als einsatzfähige Waffe in Feindeshand, bist du dran, wird das gesprengte Geschütz wieder zurückerobert, ebenfalls". Diese letztere Situation entstand an diesem Vormittag. Ich erlebte Wochen später als Zeuge also auch eine Kriegsgerichtsverhandlung.
Die beiden rechts stehenden Geschütze beiderseits der Straße hatten mittlerweile zwischen 80 und 100 Sprenggranaten verschossen, dabei war der Verschlusskolben zu heiß geworden und klemmte, es konnte also nicht mehr geschossen werden. Der Geschützführer des einen Geschützes meldete: "Rechts vom Bahndamm drei T 34!" Die Alternative war der Panzernahkampf mit der Panzerfaust. Ich schnappte mir eine und rannte damit Richtung Bahndamm, mein Kompanietruppführer nur wenige Schritte hinter mir. Jenseits des niedrigen Schienendamms erreichte ich bald den Waldrand zu einer Lichtung, in der die drei Panzer standen, sie sicherten - Turm und Geschützrohr schwenkend - nach allen Seiten. Obwohl ich noch nie eine Panzerfaust abgeschossen hatte, gelang es mir, den mir am nächsten stehenden Panzer zu treffen. Ich selbst hätte allerdings ohne meinen Kompanietruppführer, der Zeuge wurde, nicht melden können: "T34 mit der Panzerfaust erledigt!" Der heiße Strahl, der Rückstoß aus dieser Nahkampfwaffe, lenkte mich ab und das Abwehrfeuer aus den Panzern. Das eigene Leben retten, war instinktmäßig wichtiger. Als wir außer Atem beim Zurückrobben den schützenden Bahndamm wieder hinter uns hatten, gratulierte mir Unteroffizier Jeschke zum Abschuss. Er sei Zeuge, dass der T 34 getroffen wurde. Ich wusste, dass ich mich auf diese Aussage verlassen konnte.
Auf der genannten Straße, die in Richtung HKL führte, stieß ich auf den Waffen-SS-Offizier der Einheit, die vorn gelegen hatte. Der Rest seiner Leute richtete sich auf der Höhe unserer Geschütze neu zur Verteidigung ein. Ich sagte dem Mann, der offensichtlich stolz war, Führer in einer Elitetruppe (auch in der Volksmeinung) zu sein, dass wir nicht mehr schießen könnten, wir würden aber bis zur Dunkelheit sozusagen zur moralischen Unterstützung die Geschütze in der Stellung belassen. Es kam die etwas arrogante Antwort: "Wir brauchen keine moralische Unterstützung!"
Dann meldeten mir meine Leute: "Der Major kommt!" Natürlich ging ich dem Abteilungskommandeur entgegen und machte meine Meldung - mitsamt dem eigenen Panzerabschuss. Etwas verwundert musste ich zunächst einen Tadel einstecken: "Sie haben nicht hinter Panzern herzulaufen, sondern Ihre Kompanie zu führen!" "Jawohl, Herr Major!" Aber dann lockerten sich seine Gesichtszüge und er fügte hinzu: "Der mögliche Verlust eines Kompanieführers ist schwerer zu verkraften, als ein abgeschossener T 34 einbringt. Ich gratuliere Ihnen, Sie können den Sonderurlaub antreten, sobald Vertretung für Sie da ist." Es gab - ob nur in Kurland, weiß ich nicht - für jeden im Nahkampf erledigten russischen Panzer diesen Sonderurlaub. Einige Tage später teilte mir der Major mit, von der Armee sei ihm gemeldet worden, ein Oberleutnant werde die Kompanie übernehmen. Ich könne also den Sonderurlaub antreten. - Es fuhren Versorgungs-LKW nach Libau. Aber ich glaubte, meinem Vertreter oder Nachfolger die Kompanie persönlich übergeben zu müssen, ihn einzuweisen. Der neue Mann hatte die Invasion in Frankreich erlebt und war merklich desillusioniert bezüglich eines guten Ausgangs des Krieges. Meine Abreise hatte sich so ein paar Tage zu lang hingezogen, als der Major mit den Worten erschien: "Ja, mein Lieber, Sie können den Urlaub nicht antreten, der Oberleutnant A. wird wieder versetzt!" Ich glaube, ich nahm diese Wende ziemlich gelassen zur Kenntnis, weil die Nachrichten aus der Heimat nicht besonders dazu angetan waren, sich auf ein sorgloses Wiedersehen in der Heimat zu freuen. Mein Leben hätte wohl eine andere Richtung genommen, wäre ich gleich gefahren.

Panzergrenadier-Brigade Kurland
Im Laufe des Januar 1945 waren wir "Panzergrenadier-Brigade Kurland" geworden. Die letzten Geschütze der Abteilung wurden wahrscheinlich der Heeresabteilung 666 übergeben. Wir blieben Eingreifreserve - jetzt als Infanteristen.
Unsere Einsätze während der vierten und fünften Kurlandschlacht waren weniger dramatisch als es der Einsatz in der dritten Kurlandschlacht gewesen war, in der ich mir auch noch eine bleibende körperliche leichte Beeinträchtigung geholt hatte: Gehörverlust für die hohen Töne, weil ich dem Mündungsfeuer der PAK zu nahe kam. Und dann war da auch noch der von einem Gewehrgeschoss aufgerissene Stahlhelm, fast genau in Stirnhöhe. Hätte das Geschoss zwei Zentimeter tiefer getroffen, wäre der Panzernahkampf wohl ausgefallen.

Verwundet in der letzten Kurlandschlacht
Am 18. März 1945 begann der letzte Versuch der Sowjets ihre Kurlandkräfte frei zu bekommen für den Vorstoß über die Oder und die Eroberung der deutschen Hauptstadt. - Wieder war im weitesten Sinne der Raum, das Gelände südlich von Frauenburg der Kampfplatz. Mein Einsatzbefehl lautete, mit zwei Zügen - nach einem Feuerschlag der Artillerie um 8 Uhr - am 19. März in eine Bereitstellung des Gegners vorzustoßen. Wir kannten den infanteristischen Angriff nur als Übung während der Rekrutenzeit. Aber jeder hatte miterlebt, welche Opfer die Infanterie- oder Grenadier-Kompanien bringen mussten. In dem damals bekannten Lied der Infanterie hieß es: "Infanterie, du bist die Krone aller Waffen, … du trägst mit Stolz den schweren Affen, marschierst für Deutschlands Ruhm und Deutschlands Herrlichkeit hinein in alle Ewigkeit." Hier war wohl der "ewige" Ruhm gemeint und weniger die Ewigkeit nach diesem Leben.
Die innere Anspannung war bei allen spürbar, jeder wusste: Das wird ein "Himmelfahrtskommando"! - Als wir unser Ziel, es war ein verlassener winkliger Grabenabschnitt, kaum besetzt hatten, brach um 7 Uhr das Getöse der russischen Artillerie los, aber nicht in unserem Abschnitt. Das war für mich ein guter ‚Wink des Schicksals': Der Gegner kam uns zuvor mit seinem Angriff. Erleichtert gab ich den Befehl: "Zur Verteidigung einrichten, links und rechts Verbindung aufnehmen! Wir greifen nicht an!" Aber sowohl nach links war bis zum Bahndamm der Graben leer, als auch nach rechts konnte keine Verbindung mit unseren Nachbarn hergestellt werden. Nach rechts fanden meine Leute ein verlassenes deutsches MG mitsamt Munition. Inzwischen hatten wir den ersten Verwundeten durch Granatwerfer-, MG- oder Gewehrfeuer. Ein Melder, der unsere Lage im nächsten Gefechtsstand melden sollte, begleitete den Verwundeten nach rückwärts. Der Melder kam nicht zurück. Bald setzte der erbitterte Abwehrkampf gegen die vorgehenden Rotarmisten ein, die von einem Polit-Kommissar angetrieben wurden. Es gab bei unserer Gegenwehr aus dem Graben weitere Verwundete. Unvergessen sind mir die folgenden Szenen: Meine ostpreußische Kompanie hatte in den letzten Monaten die schlimmen Meldungen aus ihrer ostpreußischen Heimat gehört, auch von Vergewaltigungen. Ob der Obergefreite Kl. an seine vielleicht bedrohte Mutter, Schwester und Freundin bei dem folgenden Auftritt dachte, kann nur vermutet werden: Der relativ große, schlanke Soldat sprang mit einer Panzerfaust auf den Grabenrand, feuerte ab und schrie: "Iwan, du Hund! Jetzt kriegst du den Rest!!" dann fiel er getroffen in den Graben zurück. Beim anderen Erinnerungsbild hockt ein junger Soldat in einer Grabenecke und schießt mit schräger Gewehrneigung in Richtung Feind in die Luft. - Das Waldgelände vor uns, das Niemandsland, mit vielen hohen Baumstümpfen bot den Angreifern Schutz, und weil sie nach rechts kein Abwehrfeuer bekamen, hatten sie dort ein relativ leichtes Spiel, einige Zeit später in den deutschen Graben zu gelangen. Als mir gemeldet wurde: "Rechts ist der Iwan im Graben!!" machte ich das, was ich einmal gelernt hatte, wenn der in den Graben eingebrochene Gegner bekämpft werden muss: Mein Melder reichte mir die Handgranaten, die ich in Richtung Grabenstück warf, wo sich die Russenhelme zeigten und mein Kompanietruppführer Jeschke sicherte hinter uns mit dem Maschinenkarabiner. Als ich beim letzten Wurf mit kurzem Blick über den Grabenrand drei oder vier behelmte Köpfe gesehen hatte und mich zu Jeschke umdrehte und schrie: "Jeschke runter!!!" passierte es bereits: Er wurde mit einem Kopfschuss hingestreckt. Das war für mich ein so schwerer Schlag, dass mein Widerstandswille förmlich zusammenbrach. Ich hatte Jeschke für den ROB-Lehrgang, d.h. für die Offizierslaufbahn, vorgeschlagen, war aber auch froh, dass er bisher noch nicht den Marschbefehl erhalten hatte. Nun verfolgte ich nicht mehr das Ziel, die Russen zu zwingen, den Graben wieder zu verlassen, sondern wir verteidigten nur noch unseren Abschnitt mit der Absicht, ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit zu verlassen, weil ich uns auf verlorenem Posten wähnte. Diese Vermutung wurde von der Tatsache gestärkt, dass niemand von meinen Leuten vom Gefechtsstand mit Informationen zurückgekehrt oder von dort ein Melder gekommen war. Und vollends bestätigt wurde meine Annahme, als die Überlebenden bzw. die noch nicht Verwundeten und Gefallenen sich im Halbdunkel auf einer Lichtung zwischen Graben und Bahnlinie in meiner Nähe gesammelt hatten. Von den 80 Mann, die am Morgen hätten stürmen sollen, sammelten sich noch 27! Wir hatten gerade die Ist-Stärke unseres verlorenen Haufens festgestellt, als wir die Geräusche einer langsam heranrollenden Lokomotive im Halbdunkel hörten. Ich rief mit Erleichterung: "Das ist der Panzerzug der Panzerbrigade! Wir bekommen Feuerschutz!". Der Panzerzug. stoppte etwa auf unserer Höhe und eröffnete das Feuer aus allen Rohren (Maschinengewehre und Bordkanonen), aber!!! das Feuer lag zu kurz, nicht der Feind hinter uns wurde erreicht, sondern wir waren die Getroffenen: Besonders so ein Feuerüberfall kommt einem wie eine Ewigkeit vor, obwohl er wahrscheinlich nur Minuten dauerte. Man versucht, sich verzweifelt mit bloßen Händen einzugraben, eine vergebliche Mühe. Nach dem Abbruch des Feuers fühlte ich meinen Körper, meine Uniform ab: War ich wirklich ungetroffen davongekommen???!!! Dann die Schreie und das Rufen der Getroffenen: "Herr Leutnant!! Herr Leutnant!!" Der Panzerzug rollte zurück, und sieben Überlebende machten sich mit einem Schwerverwundeten auf der Zeltbahn auf den Weg nach rückwärts in ein zusammenhängendes Kiefernwaldgebiet. Als wir uns in diesem lichten Wald etwas außerhalb des Frontbereiches wähnten, war es meine Aufgabe, einen Gefechtsstand zu suchen. Ich übergab dem Unteroffizier, der noch in meiner verbliebenen kleinen Gruppe dabei war, die Führung. Dieser machte mich darauf aufmerksam, dass ich nicht allein gehen dürfe. Ich lehnte es ab, angesichts der wenigen Leute, dass mich jemand begleitete. Aber Ich beeilte mich nicht, weil in der Nähe meines vermuteten Zieles noch Grantwerferfeuer lag. Plötzlich gab es Einschläge, die zu uns her näher lagen. Nach einer Kehrtwendung war ich nur einige Schritte gegangen, als ich durch einen heftigen Schlag in den Rücken zu Boden ging. Es war wie ein Schlag mit einem dicken Knüppel ins Kreuz, als es mich traf. Zunächst lag ich auf dem Rücken. Der erste - etwas naive - Gedanke war: "Dreh' dich auf den Bauch, damit das Blut nicht so schnell weglaufen kann! Dann rief ich meine Leute. Sie legten mich auf eine Zeltbahn und schleppten mich fort. Ihr Entsetzen über meine Verwundung drückten sie in dem Satz aus, als einer sagte: "Was machen wir jetzt ohne Sie?!" Aber ich denke, bald kam das erlösenden Gefühl: Wir sind erst einmal raus! Denn dieses befreiende Gefühl, als es immer ruhiger wurde, ohne Kampfgetöse, hatte auch ich. Sie fanden dann bald einen Verbandsplatz, nachdem sie nach einem Sanitäter gerufen hatten. Auch bekam ich bewusst mit, dass man mir die Gummistiefel auszog und mich weiter entkleidete für die erste Wundbehandlung. Ich weiß noch, dass ich eine gewisse Zeit später auf einem kleinen (natürlich ungefederten) Leiterwagen befördert wurde.
Am nächsten Morgen lag ich auf einer Trage auf einem etwas größeren Platz vor einem recht ansehnlichen Ziegelsteingebäude, ein Hauptverbandsplatz. Hier erfuhr ich, dass mich drei Splitter trafen: Außer dem, der ganz in der Nähe der Wirbelsäule einschlug, steckte ein weiterer im linken Schulterblatt und der dritte wurde durch die linke Wade getrieben. Um mich herum sah ich eine ganze Anzahl meinesgleichen: Tragen mit Verwundeten. Sankas wurden mit Verwundeten beladen für den Abtransport ins Heereslazarett in Libau. Ein Mann suchte offensichtlich jemand unter den Verwundeten, als er rief: "Leutnant Krück?!" konnte ich mich melden. Er kam zu mir und ich erkannte den Oberfeldwebel Clausen, der Rechnungsführer der 2. Kompanie war, in der ich die Frontbewährung vor gut einem Jahr absolviert hatte. Der Kieler steckte mir eine Flasche Schnaps unter die Decke und wünschte mir schnelle Genesung. Diese nette Geste war wohltuend, aber zugleich schweiften meine Gedanken um das Geschehen am Tag davor, die Gefallenen und Verwundeten - und nach Haus in die ferne Heimat. Hoffentlich waren es gestern letztlich doch mehr Verwundete als Gefallene! Und hoffentlich können der "letzte" Unteroffizier und die "letzten" Kameraden über den Verlauf dieses wahnsinnigen Einsatzes gestern berichten.
Am 19. März 1945 war also der Krieg für mich als Soldat im Fronteinsatz zu Endet. Ich musste Kurland Anfang April als Schwerverwundeter bei Nacht und Nebel und mit Schwimmweste in einem Lazarett-Schiff verlassen. Von den drei Granatwerfersplittern, die mich getroffen hatten, war nur einer lebensbedrohend gewesen; er konnte ein paar Tage später vorn links mittels einer einfachen Bauchoperation entfernt werden.
War ich meinen damals idealistischen Vorstellungen, die des Walter Flex: in "Der Wanderer zwischen beiden Welten" gerecht geworden? "Leutnantsdienst tun, heißt, seinen Leuten vorleben, das Vorsterben kann ein Teil davon sein". - In der vierten oder fünften Kurlandschlacht musste ich einem meiner Leute den linken Arm abbinden, um den hohen Blutverlust aus der getroffenen Schlagader zu stoppen. Der junge Soldat war Pianist! "Was mache ich nun nach dem Krieg?!" Natürlich war es ein billiger Trost, als ich antwortete: "Du hast ja noch den rechten Arm!" Dennoch machte er mir ein großes Kompliment: So wie er mich als Offizier erlebt habe, kenne er kein weiteres Beispiel.

Schlussbetrachtung
Was für einen Missbrauch mit jugendlichen Idealen wurde damals von einem macht und rassenwahnbesessenen "Führer" und den Vielen seines Geistes getrieben!!! Das erkannten wohl die meisten meiner Generation, der Hitlerjugend-Generation, erst Jahre später. Aber es war nicht nur die junge Generation, die mit einstimmte bei der Liedzeile "Führer befiehl, wir folgen dir!" Ein Volk hat in der Regel die Führung, die ihm gemäß ist. Auch nach drei Jahren sowjetrussischer Gefangenschaft kannte ich noch nicht das ganze Ausmaß dessen, was dieser Krieg an Opfern und Zerstörungen verursacht hatte, auch nicht das Ausmaß des Völkermordes an den Juden. Aber diese leidvolle sowjetrussische Kriegsgefangenschaft trug dennoch sehr stark zu einer reiferen Lebensauffassung bei. - Wenn Gott so einen Menschen wie Hitler und alle Seinesgleichen - und alle durch Menschengeist und -hand entstandenen Katastrophen der Menschheitsgeschichte zulässt, sind wir als Volk, sind alle Menschen dieser Welt aufgerufen, den eigenen Lebenswandel kritisch zu hinterfragen, ob das, was wir denken, sprechen und tun, den göttlichen Lehren Geboten entspricht.

Die Hauptteile des autobiografischen Berichts des Verfassers: "Erinnerungen und Gedanken"

Teil 1: Heimat, Familie, Kindheit und: Jugend als uniformierte Marsch in den Krieg (in Erfde, damals Kreis Schleswig)
Teil 2: Vom Volksschüler zum Volksschullehrer Die erste Wegstrecke von 1939 bis 1942 - Jungmann der Lehrerbildungsanstalt in NS-Deutschland - und Arbeitsmann des Reicharbeitsdienstes
Teil 3: Soldat im Zweiten Weltkrieg - Vom Panzerjägerschützen zum Leutnant und Kompanieführer
Teil 4: Kriegsgefangener in Stalins Sowjetunion
Teil 5: Studierender des Pädagogischen Lehrgangs Burg/Dithm.
Teil 6: Lehrer - Schulleiter -Ehe - Familie mit Tochter und Sohn
Teil 7: Aus dem Tagebuch eines Pensionärs (bis 2004 in Quickborn, Kreis Pinneberg, Schleswig-Holstein; jetzt in Teltow (Brandenburg), Schillerstr. 49 A, Tel.: 03328/334023, E-Mail: willikrueck@arcor.de)





Erlebnisbericht 1:
"Gegenstoß in Kurland"
Erlebnisbericht 2:
"16. Februar 1945"
Erlebnisbericht 3:
"Kartoffelbunker"
Erlebnisbericht 4:
"Panzerdurchbruch"
Erlebnisbericht 5:
"Mein letzter Einsatz in Kurland"
Erlebnisbericht 6:
"Erlebnisse eines estnischen Luftwaffenhelfers"
Erlebnisbericht 7:
"Als Luftwaffenhelfer im Kurland-Kessel"
Erlebnisbericht 8:
"Beginn der Gefangenschaft in Kurland"
Erlebnisbericht 9:
"Persönliche Erinnerungen von Friedrich Horstmann"
Erlebnisbericht 10:
"Zug- und Kompanieführer im Kurland-Kessel"
Erlebnisbericht 11:
"Militärische Stationen von Günter Schlagmann - 126. Inf.- Div."
Erlebnisbericht 12:
"Gefangenschaft im Schoß von Väterchen Russland"
Erlebnisbericht 13:
"Stafversetzung nach Kurland"
Erlebnisbericht 14:
"Einsatz in der Nahkampfdiele"
Erlebnisbericht 15:
"Harald Kägebein schreibt über seinen vermissten Onkel"
Erlebnisbericht 16:
"Wilhelm Hopp beschreibt die ersten Tage in Gefangenschaft"
Erlebnisbericht 17:
"In russischer Kriegsgefangenschaft, von Otto Solbach"
Erlebnisbericht 18:
"Alfons Wohlgemuth über einen Gegenstoß bei Preekuln"
Erlebnisbericht 19:
Dokumente des Obergefreiten Anton Seitz
Erlebnisbericht 20:
"Erlebnisse, die man nie vergisst - Rudi Richter"


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