Bei Ende des Krieges war ich in Kriegsgefangenschaft. Die Heeresgruppe Kurland sollte sich planmäßig (ab 3. Mai 45) absetzen und die Küste bei Paulshafen, nördlich Windau oder Libau zu erreichen suchen. Am 7. Mai verlegten wir (Stab der KFA 584) in den Raum von Paulshafen, von wo aus sich auch der Stab der 16. Armee, dem die KFA 884 angehörte, in Sicherheit bringen sollte. Die russische Luftwaffe, von den Absetzbewegungen informiert, war sehr aktiv. Sie bombardierte uns bei dem Marsch mit 50 Maschinen. Wir bezogen Quartier in Lettenhäusern westlich Goldingen und erhielten abends die Meldung von der bevorstehenden Kapitulation am 8.5. 14.00 Uhr. Trotz dieses mit den Sowjets vereinbarten Termins bombardierten und jagten uns russische Flieger den ganzen Tag (8.5.45). Wir suchten Schutz in Bombentrichtern und Straßengräben. Abends wurde besonders Libau heimgesucht, weil immer noch Flüchtlingsboote starteten. Wir warteten befehlsgemäß auf weitere Befehle. Hilpert, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Kurland, hatte angeordnet, alles mobile Gerät und Akten zur Übergabe bereitzuhalten und die bezogenen Quartiere nur auf Befehl der russischen Übergabeoffiziere zu verlassen. Die erste Begegnung mit russischen Soldaten: Die erste Begegnung mit Russen war aber keineswegs wie erwartet. Von einem Quartier, das etwa 500 m von der Unterkunft des Kommandeurs entfernt lag, hörten wir am 10.5., nachmittags, mehrere MP-Schüsse. Und bald darauf kam unser Stabsarzt ohne Mütze und Koppel angerannt und berichtete, dass zwei Russen ihm Stiefel, Pistole u. MP abgenommen, und ihm mit Erschießen gedroht hätten. Ein anderer Offizier u. ich gingen unbewaffnet zu diesem Haus und fanden dort in einem Zimmer einen russischen Feldwebel und einige andere russische Soldaten, zusammen mit zwei unserer Kameraden am Tisch sitzen. Sie tranken Somagouka und aßen Brot, Speck und Eier, die Letten gestiftet hatten. Als wir eintraten, wollte der sowjetische Feldwebel die Pistole ziehen, ich grüßte aber mit "Sdrusddovuitje" und mit "nie nada" u. beruhigte ihn damit, dass wir unsere leeren Hände zeigten. Er lud uns zum Sitzen u. Mitessen und Trinken ein. Er goss uns Schnaps ein und nötigte uns zum Trinken. Wir machten gute Mine zum makaberen Spiel, fragten ihn nach Dienstgrad und Auszeichnungen und gaben ihm über uns Auskunft. "woina kaputt" ( = der Krieg ist aus), stellten wir wiederholt mit ehrlicher Freude fest u. ich sagte ihm "Skora damoi" (=bald nach Hause). Um ihn von seinen offenbar bösen Absichten abzulenken, sprach ich ihm gut zu, zu essen und zu trinken, denn er hatte offenbar schon erhebliche Mengen getrunken. Ich zeigte ihm dann auch Photographien meiner Familie, die seine offenbar ehrliche Bewunderung erregten. Da öffnete sich die Tür und im Türrahmen standen drei deutsche Soldaten mit Gewehren! Der russische Feldwebel sprang auf, griff nach seiner Pistole, bereit, sich eines Überfalles zu erwehren. Ich stellte mich ihm in den Weg und suchte ihn zu beschwichtigen. Die Männer aber donnerte ich an, die Gewehre sofort an die Wand zu stellen und schleunigst zu verschwinden! Ein neues Glas Schnaps, das ich dem Russen eingeschenkt hatte, lenkte ihn dann zum Glück ab.[...] Gefangennahme: Wir brachten noch zwei Tage in Ungewissheit über unser Schicksal zu. Eines Nachmittags erschienen zwei russische Offiziere, die unsere Waffen sehen wollten. Major Unkel lud sie zu Schnaps u. Wein u. Essen ein. Wir Offiziere vom Stab wurden auch hinzu gebeten. Die Russen tranken den Schnaps aus Weingläsern und nötigten uns, ebenso wie sie zu trinken. Während dieses makaberen Gelages ließ sich Major Unkel eine Bescheinigung von einem russischen Offizier ausstellen. Wie wir später erfuhren ist Unkel in ein besonderes Lager noch vor mir entlassen worden ... Auch untere russische Offiziere streunten bei den deutschen Einheiten umher, um Pistolen u. Fotoapparate zu erbeuten. Laut Schreiben der Heeresgruppe Nord sollten wir unsere Pistolen behalten dürfen, um etwaige Disziplinlosigkeiten verhindern zu können. Endlich erschien ein russisches Kommando zur Übernahme unserer Waffen und Geräte. Als ich dem russischen Hauptmann die Listen überreicht hatte, zog er seine Pistole und bedrohte uns, um meine Stiefel mit seinen zu tauschen. Ein schrecklicher Tausch, die russischen waren mir zu klein. Unserem San. Unteroffizier war es ebenso ergangen, nur waren seine Schuhe zu groß. Nach Tagen kam der Befehl [.?.] Wagen geschlossen durch die russischen Linien zu einem Sammelplatz zu fahren. Unterwegs blieb manches Fahrzeug im Schlamm stecken, so z. B. der "Humler" des Majors. Auch unser Verpflegungswagen, an dessen Seitenrand [noch der Schriftzug] Hill Hattingen zu lesen war, so dass wir alle Lebensmittel an unsere Stabsangehörigen verteilen konnten. Unser Gepäck war auf [...] einem zurückgelassenen LKW untergebracht worden. Bei einem Halt in einem Dorf sprangen Russen hinten auf und warfen unsere Rucksäcke auf die Straße. Ich verlor Unterwäsche und Büchsenwurst. Zum Glück hatten Hans Hosse und ich noch Brotbeutel mit Brot und Speck umgehängt, dazu ein Rasierapparat mit sechs Klingen. Auf dem Sammelplatz wurden wir Offiziere von unseren Mannschaften getrennt. Unser Weg führte uns in Gefangenschaft. Parolen liefen um: "Wir kommen mit einer Bahn nach Minsk." In Wirklichkeit landeten wir am Schluss in Riga. Dort marschierten wir durch weinende Frauen an Fenstern, zum Stacheldraht umzäunten Lager. 1500 - 2000 Offiziere in ganz einfachen Baracken. Der Platz zum Schlafen auf Pritschen war so eng, dass wir nur auf einer Seite liegen konnten. Wer nachts seinen Platz verlassen musste, fand ihn hinterher belegt vor. Nur mit Mühe konnte man in vorherige Lücken wieder aufdringen. Das Lager lag an der Ostsee (Sanitäre Verhältnisse schrecklich; Würmer!). Abends rief ein Musiklehrer aus Hamburg die Kameraden zum Singen am Strand zusammen. 1000 waren oft zusammen. [...] Kanons, Heimatlieder, unvergessliche Stunden unter der untergehenden Sonne.
Mein Großvater schrieb einen Leserbrief zu einem Zeitungsartikel über Kriegsgefangene (Abfassungsdatum und Artikel liegen mir nicht vor):
1941 (37 Jahre alt)
1942 (38 Jahre alt)
1943 (39 Jahre alt)
1944 (40 Jahre alt)
1945 (41 Jahre alt)
1948 (44 Jahre alt)
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Erlebnisbericht 1: "Gegenstoß in Kurland" |
Erlebnisbericht 2: "16. Februar 1945" |
Erlebnisbericht 3: "Kartoffelbunker" |
Erlebnisbericht 4: "Panzerdurchbruch" |
Erlebnisbericht 5: "Mein letzter Einsatz in Kurland" |
Erlebnisbericht 6: "Erlebnisse eines estnischen Luftwaffenhelfers" |
Erlebnisbericht 7: "Als Luftwaffenhelfer im Kurland-Kessel" |
Erlebnisbericht 8: "Beginn der Gefangenschaft in Kurland" |
Erlebnisbericht 9: "Persönliche Erinnerungen von Friedrich Horstmann" |
Erlebnisbericht 10: "Zug- und Kompanieführer im Kurland-Kessel" |
Erlebnisbericht 11: "Militärische Stationen von Günter Schlagmann - 126. Inf.- Div." |
Erlebnisbericht 12: "Gefangenschaft im Schoß von Väterchen Russland" |
Erlebnisbericht 13: "Stafversetzung nach Kurland" |
Erlebnisbericht 14: "Einsatz in der Nahkampfdiele" |
Erlebnisbericht 15: "Harald Kägebein schreibt über seinen vermissten Onkel" |
Erlebnisbericht 16: "Wilhelm Hopp beschreibt die ersten Tage in Gefangenschaft" |
Erlebnisbericht 17: "In russischer Kriegsgefangenschaft, von Otto Solbach" |
Erlebnisbericht 18: "Alfons Wohlgemuth über einen Gegenstoß bei Preekuln" |
Erlebnisbericht 19: Dokumente des Obergefreiten Anton Seitz |
Erlebnisbericht 20: "Erlebnisse, die man nie vergisst - Rudi Richter" |